Am 20. September erhielten die beiden 8.Klassen des Evangelischen Gymnasiums Meiningen, die ältesten Schüler unserer Schule, eine besondere und gewiss nachhaltige Geschichtsstunde.
Mit seiner Frau Barbara Einhorn besuchte der 1931 geborene Meininger Ehrenbürger Paul Österreicher die 8. Klassen und erzählte von seiner Kindheit in Meiningen, der Judenverfolgung unter dem Nazi-Regime, dem Berufsverbot für den zum Christentum konvertierten Vater, einem angesehenen Kinderarzt, dem Versteck in Berlin, dem Brand der Synagogen, den zerschlagenen Schaufenstern jüdischer Geschäfte und der geglückten Flucht der Familie nach Neuseeland kurz nach der Pogromnacht 1938. Er versetzte sich und die Zuhörer in die Perspektive des Kindes, das damals den Beigeschmack von Abenteuer empfand. Auf Nachfrage einer Schülerin, die in der Nähe eines „Stolpersteins“ wohnt, berichtete er aber auch vom Schicksal seiner Großmutter, die sich 1942 der Deportation in die Vernichtungslager mutig durch Freitod entzog.
Paul Österreicher beschrieb ebenso intensiv seine Schulzeit in Neuseeland, bei der er zunächst als einziger Deutscher und Kind einer „Feindfamilie“ in seiner Klasse ausgegrenzt und über den Pausenhof gehetzt wurde („Jagt den Hunnen“), dann aber Freundschaft fürs Leben fand. Sein weiterer Lebensweg klingt an, das Studium der Politik und Theologie, der Beruf als anglikanischer Geistlicher, das spätere Leben in England. Auch die Biographie seiner Frau kommt zur Sprache, deren Familie ebenfalls in Neuseeland Zuflucht fand und die ebenfalls später nach England ging. Beide engagierten sich in der Friedensbewegung und lernten sich kennen, als sie aufgrund ihres Reisekontaktes zu der DDR-Gruppe „Frauen für den Frieden“ 1984 im berüchtigten Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen inhaftiert war und er sie als britischer Vorsitzender von Amnesty International herausholte.
Gespannt und mit erstaunlicher Aufmerksamkeit hörten die Schülerinnen und Schüler zu. Neben Rückfragen zu einzelnen Lebensstationen rückten sie zwei Aspekte ins Zentrum: Wie war Paul Österreichers Haltung zu den Deutschen nach dem Holocaust? Wäre nicht Abscheu und Hass das Natürliche gewesen? Und: Welche Lehre oder Erkenntnis könne er den heutigen Jugendlichen mit auf den Weg geben? In seiner Antwort verwies der Gast auf seine Grundhaltung als Christ und auf die Notwendigkeit von Verzeihung und Neuanfang, auch auf die Änderung der deutschen Mentalität nach 1945, den Generationswandel. Die einprägsame Botschaft des Ehepaars am Schluss lautete: Menschen, die ausgegrenzt oder unbeliebt sind, sich freundschaftlich zu nähern; Menschen, die verfolgt sind, aufzunehmen.